Mina Inauen

Zwischen Alpleben und Haarschmuck

Wenn Mina Inauen-Neff während des Sommers am Abend vor der Alphütte Steckwees den Betruf durch den Holztrichter ruft, hallt ihre Stimme weit über den Sämtisersee hinaus. Der Alpsegen ist für die 75-Jährige mehr als ein alter Brauch: Er ist Ausdruck von Dankbarkeit und tiefem Gottvertrauen. Seit 2013 verbringt sie den ganzen Sommer mit ihrem Mann und rund 40 Tieren auf der Alp. «Ich hoffe, dass wir noch einige Jahre genügend Kraft für die Arbeit und Verantwortung haben. Das Alpleben ist etwas Besonderes, das mir sehr fehlen würde», gibt die pensionierte Bäuerin und Handarbeitslehrerin unumwunden zu.

Auch im Winter festes Ritual

Dass eine Frau den Alpsegen spricht, ist für Mina selbstverständlich. «Frauen können ebenso gut beten wie Männer.» Die Worte des Betrufs kennt sie seit ihrer Kindheit. Der Glaube ist fest in Minas Alltag verankert. Seit 2011 schaut sie als Mesmerin bei der Kapelle «Maria Heimsuchung» beim Plattenbödeli jeweils zum Rechten. Zwölf Gottesdienste betreut sie dort jeden Sommer. Auch im Winter zieht es sie einmal pro Woche hoch zur Alphütte und zur Kapelle, wo sie das Glöcklein läutet und das Gebet «Engel des Herrn» betet – ein stilles Ritual, das ihr viel bedeutet.

Schmuck mit Seele

Neben der Natur und dem Glauben sind verschiedene Arten von Kunsthandwerk ein zentrales Element im Leben der fünffachen Mutter und 16-fachen Grossmutter. Mit Mitte Vierzig begann sie, sich in die fast vergessene Kunst des Haarschmuckflechtens zu vertiefen. «Sieben Jahre hintereinander ging ich jeweils eine Woche lang ins Urner Isenthal, wo ich in der Gruppe meine Kenntnisse erweitern und die Technik verfeinern lernte». Heute ist Mina Inauen eine der wenigen, die noch Ohrschmuck, Uhrenketten oder Armbänder aus Haar herstellen. Zwei- bis dreimal im Herbst haben Besuchende des Museums Appenzell die Gelegenheit, Mina Inauen beim Haarflechten über die Schulter zu sehen. Geduld, Präzision und viel Gefühl gehören bei diesem Kunsthandwerk dazu. «Jeder Gegenstand, den man flechtet, trägt trotz des federleichten Gewichts eine oft beeindruckende Lebensgeschichte in sich», sagt sie.

Aktiv im Schneckenalter

Wer ein solches Schmuckstück erwerben möchte, muss Mina Inauen in ihrem Zuhause an der Gontenstrasse in Appenzell besuchen. Inauens Haarschmuck soll auf keinen Fall ein Konsumgut sein, das man einfach so für Geld haben kann. Die 75-Jährige ist eine Frau, die weiss und tut, was sie will und die mit beiden Füssen fest auf dem Boden steht. – Letzteres macht sie am liebsten barfuss und bis zum ersten Schnee in Sandalen. Das Haus verlässt sie fast immer mit Filz- oder Strohhut. «Ich fühle mich sonst nackt». An der Hand trägt Mina einen selbst gemachten Ring aus Zinn mit einem Schneckenhaus: «Ich bin jetzt im Schneckenalter. Alles dauert etwas länger und ich bin bedächtiger unterwegs als früher.» Nichts desto trotz lebt Mina Inauen die Appenzeller Kultur immer noch sehr aktiv «mit Liib ond Seel».

 

Autorin und Fotografin: Rosalie Manser, Weissbad
Erschienen am 19.04.2025 im Appenzeller Volksfreund auf der Wirtschaftsseite