Ewig ruft der Senn

Er ist tief verwurzelt und geht trotzdem mit der Zeit: Albert Räss, 78, verbringt seit 41 Jahren Sommer für Sommer auf der Alp. Einiges hat sich geändert, doch seinen Ritualen ist er stets treu geblieben.

Gemächlich geht er der Kiesstrasse entlang, in der Hand die Mistschaufel, im Mund ein «Lendaueli», seine Tabakpfeife. Er ist auf dem Weg, um auf der Weide den Mist zusammenzutragen. Eine von vielen Aufgaben, die Albert Räss seit Jahrzehnten auf der Furgglenalp wahrnimmt: Insgesamt 37 Jahre war er der Alphirt hier. Zuvor bewirtschaftete sein Vater für 23 Jahre die Alp, seit fünf Jahren nun Sebädöni, einer seiner vier Söhne. «Handbueb» sei er nun und unterstütze seinen Sohn, wo er könne. Von Mai bis Oktober ist Albert jeweils auf der Alp mit seiner Frau Paula. «Für uns ist diese Alp im Sommer die zweite Heimat», erzählt Albert. 22 Kühe, 119 Rinder, 34 Schweine und acht Appenzeller Ziegen sind heuer mit ihnen auf der Alp. Den Winter verbringt er auf dem Hof im Hirschberg bei Appenzell, den er 1974 von seinem Vater gekauft hat und mittlerweile seinem Sohn Sebädöni weitergegeben hat.

«Bhüets Gott ond ehaalts Gott»

«Hoooit – hoit – hoit – hoit, hoooit – hoit – hoit – hoit», ruft Albert die weissen Appenzeller Ziegen zusammen. Die Ziegen müssen gemolken werden. Melken, Tiere füttern, buttern, Holz hacken – vom Tagesanbruch bis zum Einnachten hat der Senn auf der Alp alle Hände voll zu tun. «Unkraut ausreissen», berichtet Albert, das mag er überhaupt nicht. In den vielen Jahren hat sich einiges geändert. Im Laufe der Zeit hat es in der Hütte Licht gegeben, eine Dusche und seit neuem sogar ein richtiges WC. «Das will ich nicht mehr missen», gesteht Albert. Im Sommer 2014 weihten sie einen neuen Laufstall ein. Um die Milchwirtschaft zu erhalten, sei dieser Schritt wegweisend für die Zukunft gewesen.

Seit 41 Jahren ruft Albert auf der Furgglenalp jeden Abend beim Einnachten den Betruf. Er bittet darum, dass der über die Alp gerufene Segen für die Nacht Schutz und Schirm gewährt. «Bei jedem Wetter rufe ich den Alpsegen», erzählt Albert, «ich habe noch nie einen Tag ausgelassen». Sogar als er einmal im Dorf an einer Hochzeit war, sei er abends für den Betruf wieder auf die Alp zurückgekehrt.

Das «Lendaueli» ist Alberts steter Wegbegleiter. Tagein, tagaus ist er stilsicher mit braunen Ladenhosen, Hemd und gelber «Fueteschlotte», einem Kittel der Männertracht für die Stallarbeit, gekleidet. Auch die «Sennenchappe» (Sennen-Kappe) darf nicht fehlen. Besonders charakteristisch für Albert ist sein weisser, langer Bart. Seine Hände zeugen von jahrelanger, harter Arbeit. Liebliche Augen blicken einem stets ins Gesicht, kreuzt man mit ihm den Weg.

Frische Milch und Lager

Kurz vor der Furgglenalp wirbt eine Tafel mit der Aufschrift «Frische Milch und Lager» bei der Wegabzweigung um Gäste. Eine Reihe an Alperzeugnisse wie frische Milch, Frappé, Alpenbutter, Joghurt und Alpkäse, der in der Nachbarsalp Rainhütte von ihrer Milch hergestellt wird, verkaufen sie an die Wanderinnen und Wanderer. Wer mag, darf auch bei ihnen Platz nehmen, drinnen in der urchigen Alphütte oder draussen, wo man den Tieren und Sennen zuschauen kann. Für hungrige Gäste kocht seine Frau gar einen Fenz. Dies ist eine Sennenspeise aus Milch, Mehl, Butter, Salz, Ei und Gries. Für das Abschmecken ist stets der «Chef», wie ihn Paula liebevoll nennt, zuständig. Er probiert und meint «es ischt no z’lees», was so viel bedeutet wie zu wenig gesalzen. Nebst den Einkehrmöglichkeiten bieten sie auch Schlafgelegenheiten. Direkt über dem Stall befindet sich ein grosses Matratzenlager. Wer lieber einmal in einer Alphütte schlafen möchte, wählt das Geisserhüttli. «Hier ist es wie im Paradies», schwärmt Albert und blickt in die Ferne. Ein weiteres Mal macht er sich auf, nimmt den Holztrichter zur Hand und ruft in einfachem, singendem Ton den Betruf.